Marginalisierung und Medizin in historischer Perspektive

Marginalisierung und Medizin in historischer Perspektive

Veranstalter
Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus
Veranstaltungsort
Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus
PLZ
70184
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
08.04.2024 - 10.04.2024
Deadline
07.01.2024
Von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus

Das 41. Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus befasst sich mit Marginalisierung in der Geschichte der Medizin. Nachwuchswissenschaftler:innen haben die Möglichkeit, Potentiale in diesem Forschungsfeld in verschiedenen Epochen und Regionen auszuloten und ihre eigenen Projekte zu präsentieren.

Marginalisierung und Medizin in historischer Perspektive

In der Corona-Pandemie wurde der Schutz von Risikogruppen – insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen – als gesundheitspolitische Leitprämisse ausgegeben. Dies offenbart eine Umkehr im Umgang mit „vulnerablen“ Gruppen, die in früheren Jahrhunderten eher als gesundheitliches Risiko wahrgenommen und deshalb sowohl an den sozialen als auch geografischen Rand von Gemeinschaften verbannt bzw. marginalisiert wurden. Antisemitische Pogrome während spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pestwellen, aber auch diffamierende Krankheitsbezeichnungen wie „Franzosen“ für die Syphilis, „Schwulenseuche“ für Aids oder „China-Virus“ für Covid-19 machen zudem deutlich, wie durch gesundheitliche Bedrohungsszenarien auch Ressentiments geschürt wurden und werden. Es finden sich auch historische Beispiele, in denen bereits vorhandene Diskriminierungsformen durch medizinische Differenzkategorien reproduziert und verstärkt wurden. Intersektionale Betrachtungen zeigten bisher die mangelhafte medizinische Versorgung von Gastarbeiter:innen in der frühen Bundesrepublik oder die Konstruktion des „Suchtkranken“ als medizinische Beschreibung unerwünschter Verhaltensformen von ökonomisch schlechter gestellten Personen in den USA Ende des 19. Jahrhunderts.

Der Nationalsozialismus und die in dieser Zeit verübten Medizinverbrechen stellen den Höhepunkt des Ausschlusses von stigmatisierten Gruppen aus der Gesellschaft dar. Doch auch in anderen Zeiten und Gesellschaften gab es ähnliche Vorgehensweisen. In den Hörsälen und Laboren europäischer Universitäten mussten aufgrund von asymmetrischen Machtverhältnissen kolonialisierte Menschen, nachdem sie oftmals unwissend und/oder durch Zwang aus ihrer Heimat entführt wurden, gegen ihren Willen Untersuchungen und Versuche am eigenen Körper über sich ergehen lassen. Europaweit zeugen Human Remains in historischen Anatomie-Sammlungen von diesen Praktiken. Die Verwendung von Menschen für die medizinische Lehre und Forschung findet sich aber auch schon in vorherigen Jahrhunderten, in denen sowohl zum Tode verurteilte als auch suizidale Menschen und verstorbene Insass:innen von (Armen-)Hospitälern gegen ihren Willen und ihren Glauben im Rahmen medizinischer Ausbildung seziert wurden. Wie aber jüngst die Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen, allen voran älteren und vorerkrankten Personen, während der Covid-19-Pandemie gezeigt haben, war der Umgang mit marginalisierten Personen seitens der Medizin nicht immer negativ.

Diese Bandbreite an Beispielen zeigt die immense Bedeutung von Inklusions- und Exklusionsprozessen im Bereich von Gesundheit und Krankheit und deren vielschichtigen Wechselwirkungen mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Unter dem Schlagwort Marginalisierung lassen sich verschiedenste historische Ausgrenzungspraktiken untersuchen, mit denen Personenkreise zunächst markiert und dann in die gesellschaftliche Peripherie verdrängt wurden. Diese Randexistenzen beschränkten nicht nur Teilhabemöglichkeiten in kultureller, politischer oder ökonomischer Hinsicht, sondern beeinträchtigten auch die Gesundheit und den Zugang zur Krankenversorgung. Im 41. Stuttgarter Fortbildungsseminar soll daher den Fragen nachgegangen werden, wie im Gesundheitswesen mit marginalisierten Gruppen umgegangen, welche Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten ausgegrenzt wurden und wie darüber hinaus ggf. die Medizin auch dazu beigetragen hat, Marginalisierungseffekte zu verringern bzw. zu verhindern. Dabei soll der Einfluss von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen diskutiert werden.

Neben diesem patientengeschichtlichen Zugang enthält das Thema aber noch eine zweite Ebene, nämlich die Frage nach marginalisierten Gruppen innerhalb der Medizin als Gemeinschaft heilkundiger Akteur:innen. Forschende und Praktizierende prägten in hohem Maße mit eigenen Perspektiven und Lebensrealitäten Forschungsinteressen und Wissensproduktionen. So führte der systematische Ausschluss von Frauen aus der professionellen Heilkunde seit der Frühen Neuzeit bis weit ins 20. Jahrhundert zu großen Erkenntnisdesideraten in Bezug auf den weiblichen Körper. Die Gendermedizin zielt bspw. darauf ab, mithilfe angepasster Studien, Forschungsfragen und Behandlungen diesem Versäumnis dezidiert entgegenzutreten.

Darüber hinaus lässt sich das Thema auch auf einer methodischen Ebene diskutieren. In vielen historischen Untersuchungen bleiben bestimmte Akteursgruppen weitgehend unbeachtet. Man könnte überspitzt sagen, dass diese Personen in der eigenen historischen Forschung marginalisiert werden. Die Marginalisierung lässt sich auf mehrere Gründe zurückführen: Zunächst ist eine Verzerrung bei der Themenwahl in der historischen Forschung zugunsten der vermeintlich „interessanten“ oder „historisch-wirkmächtigen“ Statusgruppen wahrzunehmen. Hier besteht die Gefahr, eine zeitgenössische Marginalisierung historiographisch zu reproduzieren. Damit einher geht aber auch die Problematik der fehlenden Quellen(zugänge): Gewisse Personengruppen hinterließen keine Quellen oder ihre Quellen sind nicht überliefert, sodass sie für die Geschichtswissenschaft aus dem Blick geraten oder sehr schwer zu fassen sind.

Für das 41. Stuttgarter Fortbildungsseminar 2024 sollen diese Problematiken mit unterschiedlichen Ansätzen und Methoden für verschiedene Epochen und Regionen beleuchtet werden. Als Vorschlag und Anregung sind folgende Themengebiete denkbar:

- Ausgrenzungsprozesse im Medizin- und Gesundheitsbereich, insbesondere der Umgang mit intersektional diskriminierten Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, Sexualität, Religion, „Behinderungen“, Lebensweise, ihres Alters, Aussehens, Geschlechts oder sozialen und ökonomischen Status usw. marginalisiert wurden,

- der Einfluss kultureller, gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen auf die Marginalisierung in der Medizin (u. A. ethnische und religiöse Konflikte, kriegerische Auseinandersetzungen, Genozide, Kolonialisierungen, ökonomische und ökologische Krisen),

- der Zusammenhang von Diversität heilkundiger Akteure und Marginalisierungsprozessen im Gesundheitswesen (bspw. Frauen in der Heilkunde oder Männer als Krankenpfleger in den 1960er Jahren),

- Umgang mit Überlieferungslücken und Quellendesideraten bei der historischen Forschung zu marginalisierten Gruppen

Andere, dem Thema im weitesten Sinne verwandte Fragestellungen und Projekte sind ebenfalls willkommen.

Organisatorisches
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus unterscheidet sich von klassischen Fachtagungen. Es ist ein interdisziplinäres Forum für Nachwuchswissenschaftler:innen, dessen zentrale Anliegen der Austausch und die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung vornehmlich in historischer Perspektive sind. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und weniger auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. So dient die Tagung auch der Vernetzung von Forschenden in einem frühen Stadium ihrer Karriere.
Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine bessere Vorbereitung zu ermöglichen. Erwünscht ist die Anwesenheit während der gesamten Tagung, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.

Das Seminar findet vom 08.04. bis 10.04.2024 in Stuttgart statt.

Ablauf
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe (Jana Schreiber, Lukas Alex, Pierre Pfütsch). Die Auswahl der Teilnehmenden wird durch die Vorbereitungsgruppe anhand anonymisierter Vorschläge vorgenommen.
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen) erhöht sich das Zeitbudget für den Vortrag und die anschließende Diskussion auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, einzelne Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung finanziert. Dies schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW werden nicht erstattet.

Anmeldung
Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden, verwendete Quellen und mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, sowie eine Kurzvita, senden Sie bitte bis zum

07. Januar 2024

per E-Mail (gerne als Word-Datei) an Dr. Pierre Pfütsch pierre.pfuetsch@igm-bosch.de.

Kontakt

pierre.pfuetsch@igm-bosch.de